Individualisierung vs. Zugehörigkeit: Der Preis unserer Ich-Bezogenheit
- Brian Neuhöfer
- 16. Juni
- 8 Min. Lesezeit

Ich möchte dich heute auf eine kleine Erkenntnisreise durch meine Arbeit mitnehmen. Heute destillieren wir daraus einige Beobachtungen und betrachten einen Wandel, der sich seit der Nachkriegszeit zwiespältig durch unsere Gesellschaft zieht.
Wie viel ist genug? Der Spagat zwischen Selbstbesessenheit und Aufopferung - Medien, Instagram und Coaches raten uns dazu: Kümmere dich um dich, denn du kannst erst geben, sobald dein Glas voll ist. Nur wann ist das Glas denn überhaupt voll?
Meine These: Viele füllen das falsche Wasser hinein.
Überschrift #1: Wie viel ist genug?
Überschrift #2: Gesunder Egoismus - Selbstaufopferung oder Selbstbesessenheit?
Überschrift #3: Blue Zones - Weshalb Menschen hier länger leben
Überschrift #4: Fazit
„Der Egoismus spricht alle Sprachen und spielt alle Rollen, sogar die der Selbstlosigkeit." – François de La Rochefoucauld
In der systemischen Therapie gibt es ein Zitat: "Die Kraft liegt beim Minimum. Bei einer guten Therapie genügen 20 Prozent. Das nennt man Gründlichkeit".
Und je mehr ich in die systemische Welt eintauche, entsteht eine Gegenbewegung in mir, die Veränderung einfach werden lässt.
Wie viel ist genug?
Eine Frage die oft gar nicht erscheint, sondern eher im Hintergrund mitläuft: Ein Privileg unserer Zeit. Schneller höher und weiter. Kapitalismus - ein Klick entfernt, ein Kreditabschluss weiter - das große Glück ist schnell zu haben.
Dazu ein Zitat von Villaint Grant, der über 30 Jahre in Harvard zum Thema Glück geforscht hat. Laut der „Grant Study“ und „Glueck Study“ – zwei Langzeitstudien der Harvard University – ist Glück eng mit zwischenmenschlichen Bindungen und dem Maß unserer Wünsche verbunden. Hier ein Zitat von Grant:
„Dazu gehört womöglich, die Arbeitszeit und den Stress zu reduzieren, damit wir unsere Beziehungen vernünftig pflegen können… Glück bedeutet auch, nicht immer alles gleich und sofort zu wollen, sondern sogar weniger zu wollen, Impulse kontrollieren zu können und seinen Trieben nicht gleich nachzugeben.“
Die Tiefe und Festigkeit von Bindungen steht im Umsatz von Geben und Nehmen. Dazu habe ich gerade einen Blog geschrieben, den findest du hier. Der ist hilfreich um das Weitere zu verstehen.
Im Deutschen ist das mit dem Glück nicht so einfach, da uns die Begriffe fehlen. Im Englischen gibt es Happiness und Luck. Zwei ganz unterschiedliche Dinge. Ich mag Zufriedenheit als Wort. Das drückt für mich oft auch Annahme, Demut und Weniger-Wollen aus.
Ich möchte eine Beobachtung mit dir teilen:
Seit dem Durchbruch der Individualpsychologie, dem Anstieg der persönlichen Ressourcen durch Wirtschaftswunder, Anstieg des BIP usw. gibt es eine starke Entwicklung Richtung persönlichem Glück. Das Eigene steht im Vordergrund: Eine Errungenschaft, die auf den Schultern unserer Vorfahren aufbaut. Emotionen und die individuelle Sicht werden immer wichtiger: Wie fühlst du dich damit? Was sind deine Beweggründe? - Die Moral bekommt einen neuen Stellenwert: Jedoch mehr im Gesprochenen, als im tatsächlichen Verhalten.
Ausgrenzung und Ausschluss für Andersdenkende: Toleranz wird gepredigt und Spaltung verursacht.
Die neue Selbstwertsäule - nicht mehr nur Tun, Haben oder Sein, sondern auch Meinung. Und damit oft: Anders als die anderen sein, weil das Gewöhnliche nicht mehr ausreicht. USP/Alleinstellungsmerkmal - Hauptsache aus der Masse herausstechen. Die Sorge im Normalen unterzugehen. In der Tiefe begleitet von dem Sehnen nach Zugehörigkeit - nur heute eben auch zu kleinen Randbewegungen, die mir durch Scrollen ins Gehirn gewischt werden. Eine Entwicklung, die Unterschiede herausarbeitet und damit Spaltung fördert.
Lass uns einen Überblick über diese Entwicklung schaffen:
1950er–1960er: Aufbruch der Humanistischen Psychologie– Carl Rogers und Abraham Maslow propagierten in den 1950er Jahren das Menschenbild des autonomen, selbstverwirklichenden Individuums. Ihre Betonung von Selbstaktualisierung und eigener Erfahrung legte den Grundstein dafür, persönliche Bedürfnisse über kollektive Normen zu stellen.
1970er: „Me Decade“ und Post-Materialismus– Mit Tom Wolfe’s Essay “The ‘Me’ Decade” (1976) wurde die 1970er-Jahre-Kultur des Self-Focus benannt: Weg vom gemeinschaftlichen „Wir“ hin zum Ich, das eigene Befinden in den Mittelpunkt stellt.
– Zeitgleich beschrieb Ronald Inglehart in seiner Theorie des Post-Materialismus (1977), wie Wohlstand in westlichen Gesellschaften dazu führte, dass Menschen materielle Sicherheit voraussetzen und stattdessen Autonomie, Selbstausdruck und persönliche Sinnsuche in den Vordergrund rücken.
1980er–1990er: Konsum- und Identitätspolitik– Die Neoliberalisierung und Consumer Culture der 1980er/90er Jahre verknüpften persönliche Identität eng mit Konsumentscheidungen („Brand-Me“). Gleichzeitig entstand in den 1990ern laut Charles Taylor das „massive subjektive Turning“, bei dem das Innenleben als zentrale Quelle von Sinn und Moral geadelt wurde.
2000er–heute: Digitaler Individualismus– Social Media hat die Betonung auf persönliche Stimmungen, Authentizität und Selbstdarstellung weiter verstärkt. Self-Care-Bewegungen und Identitätspolitik feiern persönliche Gefühle und Eigeninteressen als legitime Größe – oft losgelöst von traditionellen Familien- oder Gemeinwohl-Bindungen
Das ist eine Errungenschaft, doch gleichzeitig sagt uns die Soziologie: Zu jeder Bewegung gibt es eine Gegenbewegung. Diese Dynamik finden wir auch in der Psyche wieder. Antagonisten, Dualität - nennen wir es wie wir wollen. Oft springen wir von einer Polarität zur anderen. Ein Beispiel: Ich bin übergewichtig und starte mit einer Crash-Diät. Gemäß dem Fall ich nehme damit ab, sorgt es für das gegenteilige Extrem. Also von Pol 1 - zu Pol 2. Nach einer Zeit pendelt sich diese Dynamik oft in der Mitte wieder ein. Dafür benötigt es oft nur die Erfahrung aus beiden Extremen.
Nimmt man eine soziologische Perspektive ein, könnte man sagen: Die Entwicklung der Individualität ist Pol 2 - wo vorher die Familie, das Volk, das Unternehmen und die Gruppe zu der ich mich zugehörig fühle, wichtiger waren, sind es heute: Selbstausdruck, Social-Media, Entwicklung der Individualität, Konkurrenz und Vergleich.
Vereinskulturen werden weniger, Orte der Begegnungen nehmen ab. Meine Heimat und deren Innenstadt ist ein starkes Beispiel dafür. Anstatt dort Menschen zusammenzubringen, übernimmt der Kommerz immer mehr. Kleine Läden werden rausgedrängt, können sich nicht halten und vieles steht leer - dafür gibt es jetzt Tesla in der Innenstadt.
Ja, das ist nicht vollständig. Da geht es um viel mehr als um meine psychologische Perspektive. Aber den Anspruch habe ich hier auch nicht. Ich möchte gedanklich mit dir in eine Richtung gehen.
Meiner Arbeit könnte man berechtigterweise vorwerfen, dass es diesen Prozess der Individualisierung verstärkt. Und das erkenne ich an. Was ich durch die systemische Arbeit und Beobachtungen meiner Klienten jedoch erkenne:
Menschen möchten sich zugehörig fühlen, Freunde haben. Sich im Austausch in Gruppen erleben. Soziale Netzwerke haben. Einen festen Partner an der Seite haben. Gesunde Bindungsbeziehungen zu den Eltern und Geschwistern pflegen.
Und danach kommt der Job und die Selbstverwirklichung.
Und einige Menschen verlieren sich so sehr im Job oder in der Selbstverwirklichung, dass die Bindungsbeziehungen darunter leiden.
Und dann suchen und suchen sie. Eine endlos lange Reise.
Das durfte ich nach dem Tod meines Vaters verstehen: Es sind die Menschen in meinem Leben. Danach kommt alles andere.
Ja und die Basis dafür?
Meine Fähigkeit Beziehungen zu leben. Und dafür hat meine Arbeit Berechtigung. Dass sie die Beziehungen verbessert: Zu sich selbst und damit auch zu anderen.
Und eine ganz große Sache ist das Geben. In Beziehungen. Zu anderen Menschen. Das hebelt nämlich die Individualpsychologie aus und reduziert unsere Selbstbesessenheit.
Vielleicht gibst du heute jemandem etwas von dir, und schenkst es ganz bedingungslos.
Gesunder Egoismus - Selbstaufopferung oder Selbstbesessenheit?
Dazu eine Beobachtung aus meinem Berufsumfeld: Einige Therapeuten und Coaches die ich kenne, opfern sich wie der Messias für das Leid der Welt auf. Nobel, würde man meinen - oder? Doch der Antrieb ist entscheidend. Musste ich als Kind früh Verantwortung für andere übernehmen und fülle ich somit heute eigennützig meine Bedürfnisse nach - gesehen, bestätigt und gebraucht werden? Dann bin ich nicht frei. Dann "muss" ich das aus meiner Prägung heraus tun. Wenn du Ja zu etwas sagst, eigentlich Nein sagen möchtest, hast du nicht wahrhaft Ja gesagt - du hast nicht frei entschieden. Spielt sich diese Dynamik in mir ab - ich Gebe aus meinem eigenen Mangel heraus, damit es mir besser geht, dann bin ich wieder gefangen. Das ist ein Geben um zu Nehmen. Und dieses Nehmen ist oft nicht bei den eigenen Eltern vollzogen worden. Aber dazu an anderer Stelle mehr.
"Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten"
Nun wird gesellschaftlich das eigene Wohl immer mehr propagiert: Öffne ich Instagram springen mir unzählige Dinge entgegen, die dazu führen, dass es MIR besser geht. "Baue dir jetzt dein Traumleben auf, mache diese und jene Meditation, investiere in XY, mache diesen Trainingsplan." Es ist wenig Content zu finden, in dem Familien-fördernde Inhalte oder die Relevanz von Gruppen angesprochen wird.
Warum ist das so? Und was ist der Preis davon?
Wie bereits weiter oben erwähnt: Dieser Wandel ist eine Errungenschaft. Ich bin ein großer Freund der Individualität, zugleich ich mit Geschwistern und einer großen Familie mit täglichem Kontakt aufgewachsen bin. In meiner Kindheit war das Haus immer voll mit Familie und Freunden. Mir geht das Herz auf, wenn ich daran zurückdenke. Und jedes Mal freue ich mich, wenn ich Kids und Jugendliche draußen sehe, nicht digital oder am Handy, sondern in der echten Welt. Mit echten Problemen. Aber auch mit echten Beziehungen. Mit echten Konsequenzen und echten Erfahrungen. Wir sind soziale Wesen und erfahren uns nur über die Beziehung zu den Dingen - und am besten durch andere Menschen. Keine Technik der Welt, kann eine wahrhaftige Resonanz eines anderen Menschen ersetzen.
Aber all die Individualität hat ihren Preis. Die Tiefe einer Bindung hängt ab, vom Gesamtumsatz von Geben und Nehmen. Wenn ich immer an erster Stelle stehe, verkommt etwas in mir, weil keine tiefen Bindungen entstehen können. Dann habe ich vielleicht viele Kontakte und ein großes Netzwerk - aber keine tiefen Bindungsbeziehungen. Viele junge Menschen sind orientierungslos - wo ist mein Platz, was ist der Sinn - zwischen all den Möglichkeiten, die uns der Kapitalismus bietet, zumindest in Deutschland. Social Media Süchte haben einen gravierenden Einfluss darauf - dazu wird es in Kürze einen weiteren Blogbeitrag geben.
Ich mag folgende Zitate:
"Wer nach dem Sinn des Lebens sucht, muss nur mal einen Monat lang, etwas für andere tun, und zwar ohne Profit und in einer Gruppe"
„Die beste Möglichkeit, sich selbst zu finden, ist, sich in den Dienst anderer zu stellen.“
Und trotzdem mache ich den ersten und letzten Atemzug nur mit einer Person: Mir selbst. Technisch gesprochen: Die Aufladung meines "Egoismus" entscheidet. Und da liegt die Wahrheit wohl in der Mitte. Eine spannende Beobachtung siehst du in den Untersuchungen von Buettner zu den Blue Zones - Faktoren wie Gemeinschaft und Familie wiegen schwer - doch sieh selbst.
"Vorwürfe sind immer Ersatz für Nehmen. Und Nehmen ist das Kindliche".
Blue Zones: Weshalb Menschen hier älter werden
„Blue Zones“ sind Regionen weltweit, in denen Menschen signifikant länger und gesünder leben als der Durchschnitt. Der Begriff geht auf eine National-Geographic-Studie von Dan Buettner zurück, bei der er solche Gegenden auf Karten mit blauen Kreisen markierte. Die ursprünglich identifizierten Blue Zones sind:
Okinawa (Japan)
Sardinien (Italien, Region Ogliastra)
Nicoya-Halbinsel (Costa Rica)
Ikaria (Griechenland)
Zusätzlich gelten oft noch Loma Linda (USA) und gelegentlich Singapur als Blue Zones.

Warum werden die Menschen in den Blue Zones so alt?
Menschen in den sogenannten Blue Zones erreichen oft ein hohes Alter – bei guter Gesundheit. Der Schlüssel liegt in einfachen, aber kraftvollen Lebensgewohnheiten, die in diesen Regionen geteilt werden. Diese Gewohnheiten werden oft als „Power 9“ bezeichnet:
Natürliche Bewegung: Bewegung ist in den Alltag integriert. Statt Sportprogrammen gibt es Gartenarbeit, Gehen, Hausarbeit und handwerkliche Tätigkeiten – ganz ohne Zwang.
Ein klarer Lebenssinn: Die Menschen wissen, wofür sie morgens aufstehen. Dieses Gefühl von Sinn und Richtung stärkt die Lebensfreude und wirkt sich positiv auf Körper und Geist aus.
Stressabbau im Alltag: Innehalten gehört zum Tagesrhythmus: Ob durch kurze Pausen, Gebet, ein Mittagsschläfchen oder ein entspanntes Beisammensein – Stress wird regelmäßig abgebaut.
Bewusstes Essen (80 %-Regel): Gegessen wird achtsam – und nur so lange, bis man angenehm gesättigt ist. Dieses natürliche Maßhalten schützt vor Übergewicht und Verdauungsproblemen.
Pflanzenbasierte Ernährung: Die Ernährung ist überwiegend vegetarisch. Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkornprodukte stehen im Mittelpunkt, Fleisch gibt es selten und in kleinen Mengen.
Maßvoller Genuss von Alkohol: In manchen Regionen ist ein Glas Wein am Tag üblich – meist gemeinsam mit anderen, in entspannter Runde.
Spiritualität oder Glaube: Viele Menschen in den Blue Zones sind Teil einer Glaubensgemeinschaft oder haben spirituelle Rituale, die ihnen Halt und Verbundenheit geben.
Familiäre Verbundenheit: Familie steht an erster Stelle. Ältere Menschen leben oft im Kreis ihrer Liebsten und werden aktiv ins Leben eingebunden.
Gesunde Freundschaften: Die Menschen sind Teil von sozialen Netzwerken, in denen gesunde Gewohnheiten unterstützt und geteilt werden. Sie verbringen regelmäßig Zeit mit Menschen, die ihnen guttun.
Fazit
Was bleibt im endlosen Hamsterrad der Optimierung übrig, wenn wir wider unserer Natur handeln und wir dabei zusehen, dass Gemeinschaften schrumpfen und die Familie ihren Stellenwert verliert? Wenn wir durch Online-Interaktionen versuchen ein Glas zu befüllen, welches sich ausschließlich durch menschliche Resonanz und Inne-Halten füllen lässt?
Die Selbstoptimierung ist oft eine Illusion: Getragen vom Schmerz und dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Vielleicht richten wir den Blick Stück für Stück auf den Ursprung unserer Bedürfnisse, denn Kompensation und Individualisierung bringen keine wahrhaftige Erfüllung, sondern fördern lediglich eine Endlosspirale von Verlangen.
Am Ende geht es nicht um:
Das Schnellste
Das Schönste
Das Lauteste
Sondern um:
Erfahrung
Verbindung
Erfüllung
Und viele Menschen erkennen es erst, wenn Schicksalsschläge wie Tod oder Krankheit vor der Tür stehen.
Dein Brian
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