Geben und Nehmen: Wie dieses Gesetz unsere Beziehungen bestimmt
- Brian Neuhöfer
- vor 3 Tagen
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 3 Tagen

Stell dir vor, du trägst die leise Erinnerung an das Schicksal deiner Großmutter in dir – obwohl du sie nie gekannt hast. In jedem Lächeln, jeder Geste und jedem zögerlichen „Danke“ spiegelt sich ein archaischer Ausgleichsprozess, der tief in unseren Beziehungen wirkt. Dieses unsichtbare Spiel von Geben und Nehmen formt nicht nur unsere persönliche Dynamik, sondern verbindet uns über Generationen hinweg mit den unausgesprochenen Sehnsüchten und Traumata unserer Vorfahren.
In diesem Blog tauchen wir ein in das systemische Ordnungsprinzip von Ausgleich und Schuld, entdecken, wie verlorene Bindungen als familiäres Gewissen weiterleben, und lernen, wie wir durch innere Arbeit und symbolische Rituale alte Verstrickungen lösen können. Willkommen zu einer Reise, die dein Verständnis von Beziehungen grundlegend verändern wird.
Überschrift #1: Die Ur-Dynamik der Balance
Überschrift #2: Ausgleich und das familiäre Gewissen
Überschrift #3: Fazit
Balance gelingt erst dort, wo wir bereit sind, ebenso freigiebig zu empfangen, wie wir großzügig geben.
Das Wissen um das Ordnungsprinzip von Ausgleich - Geben und Nehmen hat mir eine Dynamik erklärt, die mich weitaus bessere Beziehungen führen lässt. Warum? Durch diese Dynamik wurde mir klar, dass es immer einen Ausgleich braucht. Im Kleinen ist es ein "Danke oder ein Lächeln". Habe ich Mist gebaut, gebe ich mehr zurück, als ich "Schaden" angerichtet habe. Ich gebe so viel, wie ich gleichzeitig auch fähig wäre anzunehmen. Außerdem gebe ich nur so viel, dass die Person die Möglichkeit hat, es auszugleichen.
Das klingt vielleicht für Altruismus-Liebhaber komisch, ist in der Realität aber deutlichst erkennbar. Vielleicht wird dieser Beitrag eine neue Perspektive geben.
Ein einfaches Beispiel wäre: Du machst neue Bekanntschaften in einem Verein. Mit der einen Person verstehst du dich gut. Es entwickelt sich eine Freundschaft. Nach 2-3 Monaten ruft dich die Person an und lädt dich ein: 3-Wochen Asien Rundreise, Malediven oder was auch immer. Die Person kommt für die Kosten auf. Dir fällt es schwer anzunehmen - Ja, aber warum denn eigentlich?
Wenn ich vielleicht keine Möglichkeit habe, so etwas auszugleichen (in dem Fall finanziell), entsteht eine Dysbalance in Geben und Nehmen. Diese Dysbalance kannst du dir vorstellen wie eine Waage: Und natürlich wird es da Momente und Situationen im Urlaub geben, die diese Waage wieder ein wenig angleichen. Doch was passiert, wenn eine Ausgleichs-Dysbalance entsteht, erfährst du im Laufe des Beitrages. Die Folgen sind nämlich größer, als wir denken.
Die Herausforderung ist nur, dass wir diese Form von Ausgleich nicht konkret spüren können. Anders als ein im Körper spürbares Schuldgefühl, ist dieses Gesetz (wie auch die beiden anderen systemischen Gesetze -> dazu wird es in Kürze weitere Blogbeiträge geben) eher wie ein nicht spürbares aber dennoch vorhandenes Organ. Eine Art Lebensprinzip.
Und so richtig klar wurde es mir, als ich in Form einer Marketingaktion 1:1 Sitzungen verlost habe. Die meisten Menschen haben sich nach diesen Gewinnspielen von mir entfernt, obwohl die Ergebnisse gut waren. Was ich dabei verstehen durfte: Es braucht einen Ausgleich. Und wieso sich Menschen entfernen, wenn der Ausgleich kippt, prüfen wir im Laufe des Beitrages genauer. Geld als Beispiel, ist ein wunderbarer Ausgleich. Am Ende ist Geld gespeicherte Energie, meist entstanden durch Arbeitsleistung. Tausche ich Geld gegen eine Dienstleistung, bedeutet es: Ich tausche deine Dienstleistung (Zeit und Aufwand) gegen mein Geld (entstanden durch Zeit und Aufwand).
Diese Dynamik zwischen Ich und Du ist leicht zu begreifen. Wenden wir uns jedoch der systemischen Welt zu, wird es komplizierter. Bevor wir damit starten, lass uns noch ein paar Fakten klären.

Die Ur-Dynamik der Balance
Jedes lebende System strebt nach Ausgleich. Wenn wir etwas erhalten, entstehen unbewusste Impulse, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Dieser Impuls ist so tief verankert, dass wir ihn als Schuld, schlechtes Gewissen oder inneren Drang erleben, umgehend zurückzugeben. In Beziehungen sorgt dieser Mechanismus dafür, dass Zuwendung nicht einseitig bleibt, sondern in einem Fluss von Geben und Nehmen weitergeleitet wird.
Automatische Schuld: Schon ein freundliches Angebot kann den Empfänger belasten, weil er die Freiheit fühlt, etwas Gleichwertiges leisten zu müssen.
Lebensbasisprinzip: Geben und Nehmen gelten in der systemischen Lehre als Basis aller harmonischen Begegnung – ohne sie gerät jede Verbindung ins Stocken.
Der Kreislauf von Geben und Nehmen verläuft in Schleifen:
Geben – ein Impuls, den anderen zu unterstützen.
Druck auf Empfänger – die stille Bitte, das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Rückgabe (oft verstärkt) – um Schuld abzubauen, oft überkompensierend.
Ende des Austauschs – erst wenn beide Seiten gleichwertig beigetragen haben, kann sich die Beziehung entspannen.
Ist das System im Dauer-Ungleichgewicht, leiden beide:
Übergeber erschöpfen sich emotional.
Übernehmer fühlen sich abhängig und schuldig.
Bert Hellinger und Gunthard Weber definieren drei unverrückbare Lebensordnungen, die jede Gemeinschaft zusammenhalten:
Bindung– Die primäre, bedingungslose Liebe, die uns zuerst an unsere Herkunftsfamilie bindet. (Blogbeitrag folgt)
Ordnung– Die Einhaltung von Hierarchie und Rang: Kinder vor Enkeln, Jüngere nach Älteren, Mitarbeitende nach Vorgesetzten. (Blogbeitrag folgt)
Ausgleich– Das Wechselspiel von Geben und Nehmen als Garant für Fairness und Gleichwertigkeit.
Nur wenn alle drei Ordnungen respektiert werden, können Beziehungen auf Dauer gedeihen. Fehlt der Ausgleich, fühlt sich ein Mitglied stets „im Minus“ – es entsteht Desinteresse, Schuld oder Abgrenzung.
Antike Philosophien: Aristoteles formulierte bereits, dass Gerechtigkeit im Austausch von Äquivalenten liegt.
Religionen und Rituale: Opfergaben, Karma-Glauben und Gastfreundschaftsgesetze basieren auf dem Gedanken: Wer gibt und nimmt in rechter Weise, bringt die Welt ins Gleichgewicht.
Moderne Ethik: Soziologen beschreiben Reziprozität als „hochkomplex“, weil sie nicht nur materiellen, sondern auch emotionalen Ausgleich einfordert – Dankbarkeit, Fürsorge und gegenseitige Wertschätzung.
Wir leben von dem, was wir bekommen. Wir schaffen ein Leben durch das, was wir geben. - Winston S. Churchill

Ausgleich und das familiäre Gewissen
Fakten sind geklärt - weiter gehts. Ich möchte dir von etwas berichten, was mir wirklich am Herzen liegt. Aktuell mache ich eine systemische Ausbildung. Was bedeutet das? Systemische Aufstellungen dienen dazu, halb- oder unbewusste Dynamiken sichtbar zu machen. Durch das Aufstellen mit Stellvertretern oder Gegenständen, können Dynamiken sichtbar gemacht und Lösungen bewirkt werden. Das was dich im Innen belastet, machst du im Außen sichtbar.
Ich mache ein Beispiel, anhand eines Falles von einer Klientin: Mitte 50, attraktiv, klug, sozial- und emotional intelligent. Seit 10 Jahren Single. Jede Kennenlernphase bricht nach kurzen Zeiträumen ab. Erklären kann sie es nicht. Sie findet zwar ein grobes Muster, geholfen hat ihr das aber auch nicht richtig.
Intervention: Zielaufstellung - als Ziel stellte sie ihren "Traumpartner" auf.
Diese Aufstellungen haben wir mit Gegenständen gemacht (Kissen).
Zu der Zielaufstellungen gehörten zwei Hindernisse, die sie intuitiv im Raum platzierte. Ohne zu wissen, welche Hindernisse das sind - Menschen? Situationen? Überzeugungen?.
Dieser Konflikt ist ihr ja seit jeher nicht bewusst. Im Laufe des Prozesses stellte sich heraus, dass zwischen ihr und ihrem Traumpartner Folgendes stand:
Hindernis 1 - der Vater
Hindernis 2 - die Großmutter
Bedeutet: Unbewusst steht eine Geschichte mit dem Vater und der Großmutter vor dem Traumpartner. Mit dem Verstand nicht greifbar. Warum aber lohnt es sich, diesen Fall zu erwähnen?
Wegen der Großmutter. Ich denke, dass einem Jedem von uns bewusst ist, dass die eigene Prägungsphase stark mit den eigenen Eltern gekoppelt ist. Dort, wo wir lernen, wie wir auf Menschen zugehen - ob wir vertrauen, uns zeigen können, Liebe schenken und erwidern können. Wenn das nicht schon in sich kompliziert genug ist, geht die Reise jetzt in ein noch tieferes Tal.
Warum stand die Großmutter mit in der Aufstellung? Im Prinzip hätte sie dort ja alles aufstellen können -> ihren Selbstwert, Geld, Situationen mit einem Ex, die erste große Liebe - ihr System hat dort aber einen anderen Teil ihres Bewusstseins hinzugefügt - die Großmutter - es scheint von Relevanz zu sein.
Nachdem sich herausgestellt hat, dass es die Großmutter ist, habe ich die Klientin gefragt, wie die Verbindung zu ihrer Großmutter ist. Die Antwort kam schnell - sie kennt sie nicht.
Und trotzdem scheint sie maßgeblich an dem Leben ihrer Tochter beteiligt zu sein.
Wie können wir das erklären? Es gibt viele Ansätze. Lass uns hier ein paar Gängige anschauen:
1. Familiengewissen und unbewusste Loyalität
These: Auch wenn die Großmutter weit entfernt oder lange verstorben ist, wirken ihre unausgelebten Gefühle und unerledigten Schicksale unbewusst in dir weiter – als Familiengewissen.
Experten:
Bert Hellinger (systemische Familiendynamik): Er beschrieb, dass ein System Schuld oder Ungleichgewicht speichert, bis ein Nachfahre sich dieser Schuld annimmt – unbewusst.
Gunthard Weber ergänzt, dass solche Dynamiken oft erst sichtbar werden, wenn man sie symbolisch anspricht, z. B. in Aufstellungsarbeit.
2. Epigenetik und biologische Prägung
These: Traumatische Erfahrungen können biologischen Einfluss haben – durch epigenetische Veränderungen, die das Stressverhalten und das emotionale Erleben über Generationen prägen.
Experten:
Rachel Yehuda (Neuroendokrinologin) zeigte bei Kindern von PTSD-Betroffenen Hinweise auf hormonelle Veränderungen.
Elisabeth Binder & Isabelle Mansuy belegen, dass DNA-Methylierung als Reaktion auf Stress weitergegeben werden kann – also biologische Erinnerungen in dir wirken.
3. Bindungsdynamik im frühen Kontakt
These: Kinder „spiegeln“ unbewusst elterliche und auch Großelterndynamiken, verinnerlichen Projekte oder psychische Muster, die originär nicht ihre eigenen sind.
Experten:
Franz Ruppert spricht vom 3-Generationen-Modell: Über die Großmutter entsteht ein unbewusstes Trauma-Netzwerk, das sich über Mutter bis zur Enkelgeneration fortsetzt.
Bindungsforschung (z. B. Fraiberg et al.): Kinder übernehmen subtil die ungelösten Gefühle ihrer Vorfahren – die „Geister im Kinderzimmer“.
4. Kollektive Traumata und kulturelle Resonanz
These: Gesellschaftliche oder familiäre Traumata (z. B. Krieg, Vertreibung) wirken als kulturelle Felder, in denen Nachfahren weiterleben, obwohl sie nicht unmittelbar betroffen waren.
Experten:
Thomas Hübl untersucht kollektives Trauma auf gesellschaftlicher Ebene und betont, dass unbewusste Familienthemen bis in die moderne Gesellschaft wirken.
Noémi Orvos‑Tóth beschreibt, wie solche Verstrickungen zu einem „ererbten Schicksal“ werden, das sogar in Generationen überspringen kann.
Wie man es dreht und wendet: Die Praxis mit Klienten und vor allem meine eigene Veränderungsreise in Coaching und Therapie zeigt mir: Der Einfluss unserer Vorfahren ist größer als wir glauben. Selbst, wenn wir diese nie kennengelernt haben.
Und jetzt denk noch einmal zurück an das Ursprungsthema dieses Beitrages: Geben und Nehmen. Systeme streben nach Ausgleich. Auch ein Familiensystem.
In der Aufstellung mit der Klientin hat sich herausgestellt, dass die Großmutter (durch Erzählungen der Mutter) früh ein Kind verloren hat. Danach war sie nie wieder die Selbe. Dieses Trauma begleitete sie bis in den Tod (Erzählungen der Mutter).
Dieses Verlusttrauma kann (wie wir es bei der Klientin gesehen haben) zwei Generationen später wirken.
"Bevor sich diese Dynamik (Verlust) wiederholt (auch wenn sie mir nicht bewusst ist und ich sie nicht fühle), meide ich die Möglichkeit mich fest an einen Partner zu binden". Somit entsteht ein nachträglicher Ausgleich.
Je größer die Bindung, umso höher der Umsatz von Geben und Nehmen. Und damit auch größer die Angst, diesen Menschen zu verlieren.
Generationenbindung und stellvertretende Sühne
Wird ein Familienmitglied von Bindung und Ausgleich ausgeschlossen, entsteht kollektive Schuld. Nachfahren übernehmen diese Schuld oft unbewusst:
Stellvertretendes Leiden: Kinder oder Enkel erleiden Krankheit, Scheitern oder emotionale Blockaden, um die “unbezahlte Schuld” ihrer Vorfahren auszugleichen.
Systemische Bindung: Das Familiengewissen schreit nach Wiedergutmachung, bis der Ausgleich symbolisch oder real vollzogen ist.
Heilung durch Sichtbarmachung: Anerkennung des Ausgegrenzten, familiäre Aufstellung und bewusste Sühnerituale lösen die unbewusste Pflicht, stellvertetend zu leiden.
Die Weigerung zu nehmen
Einige wollen ihre Unschuld bewahren, indem sie sich weigern zu nehmen. Dann sind sie zu nichts verpflichtet, leben somit aber auf Sparflamme und sind oft leer und unzufrieden. Diese Weigerung zu nehmen hängt oft bereits in der Beziehung zu den eigenen Eltern und überträgt sich dann auch später auf andere Beziehungen oder gute Sachen im Leben. Wer nur geben will, hält an einer Überlegenheit fest und verhindert dem anderen ebenbürtig zu werden.
Nehmen ist das Kindliche.
Wo ein Ausgleich nicht möglich ist
Zwischen Kindern und Eltern, Lehrern und Schülern - hier können wir lediglich für einen Ausgleich sorgen, indem wir weitergeben - an eigene Kinder oder Mitmenschen.
Natürlich gibt es auch Taten, die das eigene Leib und die Existenz so stark gefährden und erschüttern, dass ein Ausgleich nahezu unmöglich erscheint. Ich lasse das mal offen für eigene Gedanken.
Wenn es zu einer wirklichen Versöhnung kommen soll, dann hat der Unschuldige nicht nur den Anspruch auf Wiedergutmachung und Sühne, er hat auch die Pflicht, diese einzufordern.
Fazit
Ausgleich von Geben und Nehmen ist kein bloßes Zahlenspiel, sondern ein tief verwurzeltes Ordnungsprinzip – auf persönlicher wie familiärer Ebene. Jeder Akt des Schenkens und Empfangens löst unwillkürlich die Suche nach Balance aus, sei es durch ein einfaches „Danke“ oder durch subtile Schuldgefühle.
Weber und Hellinger zeigen uns, dass dieses Prinzip ebenso individuell spürbar ist wie über das kollektive Gewissen einer Familie weitergegeben wird. Ungeklärte Dynamiken – etwa ein nie verarbeiteter Verlust der Großmutter – lassen Nachfahren unbewusst stellvertretend leiden, bis symbolisch oder tatsächlich ein Ausgleich geschaffen wird.
Dank systemischer Aufstellungen und innerer Arbeit können wir diese Verstrickungen sichtbar machen und lösen. So wird aus einer unsichtbaren Pflicht eine bewusste Wahl: bewusst geben, ebenso bewusst empfangen – und dadurch Beziehungen, Familien und uns selbst heil und frei gestalten.
Dein Brian
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