Zugehörigkeit, Ausgleich, Rangordnung: Das Fundament stabiler Beziehungen
- Brian Neuhöfer
- vor 12 Minuten
- 5 Min. Lesezeit

Systemisches Denken lädt dich ein, die verborgenen Kräfte zu erkunden, die unser Zusammensein formen – ganz gleich, ob in der Familie, im Freundeskreis oder im Job. Begib dich mit mir auf eine Entdeckungsreise zu den drei essenziellen Ordnungsprinzipien jeder Gemeinschaft: dem unverrückbaren Recht auf Zugehörigkeit, dem zarten Gleichgewicht von Geben und Nehmen und der stillen Rangordnung, die für Stabilität und Harmonie sorgt.
Außerdem werfen wir einen Blick auf das oft übersehene Phänomen der Parentifizierung – dieses Rollenkarussell, in dem Kinder zu Ersatzeltern werden – und zeigen dir aus psychodynamischer und systemischer Sicht, wie sich diese Dynamik kurz- und langfristig auf deine Persönlichkeit und deine Beziehungen auswirkt. Freu dich auf Aha-Momente und vielleicht auch den ein oder anderen inneren Widerstand!
Auch wenn es ein wenig technisch wird - bleib dran, weil es sich lohnt.
„Sehr viel Moral, wenn sich einige besser fühlen als andere und sich über sie erheben, heißt in der Praxis: ‚Ich habe größeres Recht dazuzugehören als du."
Vielleicht wirst du bei den Grundgesetzen auf inneren Widerstand stoßen - und ich verstehe das. Bei dem systemischen Denken geht es jedoch nicht um die "intrapersonelle Ebene" - also die subjektive Wahrnehmung mit all den Konflikten und Erlebnissen zwischen den jeweiligen System-Anteilen. Einfach gesprochen: Es geht nicht um Bewertung, richtig und falsch - gut oder böse. Und es geht auch nicht darum, wie wir beispielsweise von den eigenen Eltern instrumentalisiert, bestraft oder missbraucht worden sind. Das hat seinen Platz, ist jedoch nicht der Fokus im systemischen Ansatz - hier geht es um die Dynamik und die Ordnung - das wird im Laufe des Beitrages sichtbar und verständlich.
1. Systemische Grundprinzipien im Überblick
Systemisches Denken betrachtet Menschen stets in ihrem Beziehungsgeflecht – sei es Familie, Partnerschaft, Freundeskreis oder Organisation – und leitet daraus Ordnungsprinzipien ab, die Stabilität und Gesundheit eines Systems gewährleisten. Jedes System außerhalb der Herkunftsfamilie kann als Familienersatzsystem gesehen werden.
1.1 Recht auf Zugehörigkeit
Jedes Mitglied eines Systems hat das unveräußerliche Recht, dazuzugehören. Wird einem Mitglied dieses Recht verweigert, entsteht „Unordnung“ mit weitreichenden emotionalen und psychischen Konsequenzen für alle Beteiligten:
Soziale Isolation und Vereinsamung: Das ausgeschlossene Mitglied zieht sich zurück oder wird von anderen gemieden.
Loyalitätskonflikte: Angehörige fühlen sich hin‑ und hergerissen zwischen der System‑Erhaltung und dem Schutz des Ausgeschlossenen.
Identitäts‑ und Selbstwertkrisen: Betroffene verlieren das Gefühl, einen festen Platz zu haben, was zu geringem Selbstwert und Orientierungslosigkeit führen kann.
Emotionale Verarmung: Schuld‑, Scham‑ oder Angstgefühle entstehen und können sich in depressiven Verstimmungen oder psychosomatischen Symptomen manifestieren.
Transgenerationale Weitergabe: Ausgrenzungsmuster und das „Aufnehmen des Platzes“ des Ausgeschlossenen können unbewusst an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.
„Sobald einem Mitglied der Familie diese Zugehörigkeit verweigert oder abgesprochen wird, entsteht eine Unordnung mit weitreichenden Folgen.“ - Bert Hellinger.
1.2 Ausgleich von Geben und Nehmen
Ein ausgeglichenes Verhältnis von Geben und Nehmen verhindert Schuld- und Pflichtgefühle. Sobald ein Mitglied mehr nimmt, entsteht ein inneres Unruhegefühl, bis durch eine gleichwertige Gegenleistung Ausgleich geschaffen ist. Es empfiehlt sich: "Mehr" zurückzugeben, sofern eine schwere Dysbalance entstanden ist, um die Dynamik auszugleichen. (wimmer-partner.atcarl-auer.de)
„Die Ordnung von Geben und Nehmen wird uns durch unser Gewissen vorgegeben. Sie dient dem Ausgleich und damit dem Austausch in unseren Beziehungen.“
1.3 Rangordnung
Innerhalb jedes Systems gilt eine zeitliche oder hierarchische Rangfolge: Ältere Generationen bzw. Leistende haben Vorrang und genießen dadurch bestimmten Vorrang. Gleichzeitig sind mit einem höheren Rang auch erweiterte Pflichten und Verantwortung verbunden – wer mehr Einfluss hat, trägt auch die Last, das System im Gleichgewicht zu halten. Missachtungen dieser Ordnung führen oft zu Störungen wie Machtkämpfen, Loyalitätskonflikten oder Überlastungsgefühlen. (wimmer-partner.at)
„Jedes Mitglied des Systems hat ein gleiches Recht auf Zugehörigkeit – wenn auch nicht den gleichen Rang in der Hierarchie.“

2. Parentifizierung: Theorie und Folgen
2.1 Begriff und Unterscheidung
Der ungarische Psychotherapeut Iván Böszörményi-Nagy führte 1965 den Begriff „Parentifizierung“ ein, um die Umkehrung natürlicher Generationsverhältnisse zu beschreiben, bei der Kinder zeitweise oder dauerhaft Elternaufgaben übernehmen.
Man unterscheidet dabei:
Instrumentelle Parentifizierung: Kind übernimmt praktische Aufgaben der Eltern.
Emotionale Parentifizierung: Kind dient als Gesprächspartner oder Partnerersatz für elterliche Bedürfnisse.
Zur Würdigung gehört, dass man sich raushält.
2.2 Psychodynamik und Entwicklungsaspekte
Emotionale Parentifizierung gilt als besonders schädlich, weil betroffene Kinder ihre spontane Gefühlswelt und kindliche Bedürfnisse unterdrücken. Warum tun Kinder das? Als ein zu höchst abhängiges Wesen ist das Schlimmste was passieren kann, die Bindungspersonen zu verlieren. Der Verlust der Eltern würde den eigenen Untergang bedeuten - und das wird natürlich auch aus Liebe getan. Studien zeigen, dass parentifizierte Kinder bis ins Erwachsenenalter unter Identitätsproblemen, geringem Selbstwert und Beziehungsängsten leiden können. (ULB-DOKFamilienleben.ch)
2.3 Langfristige Folgen
Langzeitfolgen reichen von chronischen Schuldgefühlen und Perfektionismus über Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen, bis hin zu Depressionen oder co-abhängigen Beziehungsmustern.
Hier einige der häufigsten systemischen Dynamiken und Verschiebungen, die in Familien- und Organisationssystemen beobachtet werden:
Triangulation Ein Konflikt zwischen zwei Personen wird dadurch „entlastet“, dass eine Dritter hineingezogen wird – häufig entstehen so Loyalitätskonflikte.
Rollenumkehr (Parentifizierung) Kinder übernehmen Elternaufgaben (instrumentell oder emotional) und geraten dadurch in eine ungesunde Rollendynamik.
Projektion und Introjektion Unerträgliche Gefühle oder Wünsche werden auf andere Personen projiziert (z. B. „Du bist böse!“) oder unreflektiert als innerer Anteil übernommen („Das hat mein Vater immer so gesagt“).
Symmetrie vs. Komplementarität Gleichberechtigte (symmetrische) Beziehungen führen leicht zu Konkurrenz, während komplementäre Beziehungen (Geben–Nehmen) schnell in Abhängigkeitsmuster kippen können.
Systemische Ketten (Repetitionszwang) Unbewusste Übernahme belastender Beziehungsmuster von früheren Generationen, die sich „wie von selbst“ wiederholen (z. B. immer wieder Trennungserfahrungen).
Sündenbock‑Mechanismus (Scapegoating) Eine Angehöriger wird als Ursache aller Probleme markiert, wodurch die Systemspannung kurzfristig entladen, langfristig aber ungelöste Konflikte verschärft werden.
Geheimhaltung und Nicht‑Sagen Ungeschriebene Tabus oder Familienstimmen, über bestimmte Themen nicht zu sprechen, erzeugen ein unterschwelliges Macht- und Schamgefüge.
Delegation Eine Generation „delegiert“ ungelöste Aufgaben an die nächste (z. B. den Wunsch nach Erfolg oder Rebellion), wodurch Nachfolgende in deren unbewusste Pläne hineinrutschen.
Sekundärgewinn Unbewusste Vorteile (z. B. Aufmerksamkeit durch Krankheit oder Konflikt) stabilisieren dysfunktionale Muster und erschweren Veränderungen.
Systemische Rollenverdichtung Einzelne Personen übernehmen zu viele oder sich widersprechende Aufgaben (z. B. Vertraute*r und gleichzeitig Kontrollinstanz), was zu Überlastung und Verwirrung führt.

3. Mythen vs. Fakten
Mythos 1: Familiäre Aufstellungen seien reine Pseudowissenschaft.
Fakt: Obwohl kritisiert, basiert die Methode auf systemischer Theorie und wird von zertifizierten Therapeut:innen weltweit gelehrt und angewendet.
Mythos 2: Man müsse alle Details der Familiengeschichte kennen, damit eine Aufstellung wirke.
Fakt: In der Regel erscheinen nur die Themen, die im „Feld“ reif für Veränderung sind – ohne vollständige historische Informationen.
Mythos 3: Familienaufstellungen seien eine Art Kult.
Fakt: Sie sind keine religiöse oder sektenhafte Praxis, sondern eine legitime, systemisch-therapeutische Methode unter Einhaltung ethischer Standards.
Mythos 4: In Aufstellungen geht es um Schuldzuweisung an die Familie.
Fakt: Ziel ist es, systemische Verstrickungen zu verstehen und aufzulösen, nicht Angehörige zu beschuldigen.
Mythos 5: Systemische Therapie ist nur Familientherapie.
Fakt: Sie wird auch in Paarberatung, Organisationsentwicklung und Coaching eingesetzt.
4. Konkrete Strategien für den Alltag
Ohne spezielle Übungen im Stil einfacher Tagebücher, aber mit professioneller Tiefe lassen sich die systemischen Prinzipien folgendermaßen integrieren:
Systemische Perspektivwechsel Fragen wie „Welche Rolle nehme ich in meinem Familien- oder Arbeitsumfeld ein?“ oder „Wer fehlt in dieser Konstellation?“ eröffnen neue Blickwinkel.
Bewusste Rangordnungsreflexion Kläre, in welchen Beziehungen du unbewusst Hierarchien missachtest – etwa indem du älteren Kolleg:innen keinen Respekt entgegenbringst – und stelle dich aktiv auf deren Erfahrungsseite.
Integration ausgegrenzter Anteile Identifiziere Themen oder Personen, die im „System deiner Gedanken“ ausgeschlossen werden (z. B. ungeliebte Gefühle oder Familienmitglieder) und ermögliche ihnen symbolisch Raum – etwa durch ein inneres Gespräch oder professionelle Aufstellung.
Professionelle Begleitung suchen Wenn Parentifizierung oder tiefe systemische Verstrickungen über individuelle Ressourcen hinausgehen, empfiehlt sich systemische Therapie oder Coaching.
5. Fazit
Wir alle tragen Verantwortung für unsere Systeme - und zeitgleich dürfen wir Nehmen. Denn darin liegt eine Demut - das Kindliche.
"Und es gibt nur ein Weg des Entrinnens. Einsicht in die Ordnung, und ihr dann mit Liebe folgen.
Buchempfehlungen:
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