Jede Familie hat ihre hellen und ihre dunklen Seiten. Wir alle sind geprägt durch die Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern. Unbewusste Aufträge, blinde Loyalitäten oder uralte Lasten können sich wie ein roter Faden durch die Geschichte unserer Familie ziehen. Und das über Generationen hinweg. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familie ist nicht nur lohnenswert, sondern in einigen Fällen der Schlüssel, um ein selbstbestimmtes und glückliches Leben zu führen.
Die systemische Sichtweise besagt, dass wir von den Erfahrungen unserer Vorfahren beeinflusst sind, weil familiäre Erlebnisse und Überzeugungen oft über Generationen weitergegeben werden. Diese Übertragungen können auf verschiedenen Wegen geschehen:
Unbewusste Loyalitäten und Familiengesetze: Familien entwickeln oft „Gesetze“ und Werte, die sich an besonderen Erlebnissen orientieren. Wenn Großeltern etwa Armut oder Verlust erlebt haben, wird in der Familie möglicherweise ein starker Sparzwang oder ein Fokus auf Sicherheit etabliert, der auch nach mehreren Generationen wirkt, obwohl die Gründe längst entfallen sind.
Epigenetische Prägungen: Studien zeigen, dass Trauma und große emotionale Ereignisse epigenetische Veränderungen auslösen können, die Einfluss auf die Gene nachfolgender Generationen nehmen. So kann ein Enkelkind, ohne die traumatische Erfahrung direkt erlebt zu haben, doch Verhaltensweisen oder Stressmuster entwickeln, die aus den Erlebnissen der Großeltern resultieren.
Narrative und Traditionen: Geschichten über vergangene Ereignisse – beispielsweise über Flucht oder Neuanfänge – prägen das Familienbild und schaffen innere Verpflichtungen oder Einstellungen, etwa zu Risiko, Sicherheit und Veränderung.
Studien zeigen, dass Erlebnisse wie extreme Stresssituationen oder Verluste chemische Veränderungen in der DNA verursachen, die über Generationen weitergegeben werden können. Ein bekanntes Beispiel ist die Studie zu Holocaust-Überlebenden, deren Nachkommen oft ähnliche Angst- und Stressmuster zeigen, obwohl sie die traumatischen Erfahrungen ihrer Eltern oder Großeltern nicht direkt erlebten. Rachel Yehuda et al.: Holocaust exposure induced intergenerational effects on FKBP5 methylation. Biological Psychiatry, 12.08.2015.
Überschrift #1: Gesetze innerhalb der Ursprungsfamilie
In jeder Familie gibt es "ungeschriebene"Gesetze. Ungeschrieben meint: unbewusst, nicht ausgesprochen, aber wirksam im Hintergrund mitlaufend. Diese Gesetze bestimmen zum Großteil, wie wir mit dem eigenen Gewissen umgehen. (Scham und Schuld) Die Aufgabe des Gewissens ist es, uns vorm Ausgeschlossen werden zu schützen. Im Kern dreht es sich hier um die Ursprungsfamilie, selbst als Erwachsener, der keinen Kontakt mehr zu seiner Herkunftsfamilie pflegt. Diese unbeschriebenen Gesetze regeln oft das Verhalten als auch emotionale Dynamiken im Heute.
Was gilt in der Familie als akzeptabel, was als tabu? Das beeinflusst wie wir als Familienmitglieder unsere Rolle verstehen und wahrnehmen. Diese unsichtbaren Gesetze können z. B. Erwartungen an Rollenbilder, den Umgang mit Konflikten, emotionale Offenheit oder das Schweigen über vergangene Traumata umfassen. Oft wird ein bestimmtes Verhaltensmuster unbewusst übernommen und an die nächste Generation weitergegeben, was zu Verhaltensmustern und Einschränkungen führen kann, die erst durch bewusste Auseinandersetzung gelöst werden können.
Das Gefühl von einem inneren Zuhause, kann uns durchs Leben tragen. Etwas, nach dem wir alle streben: Zugehörigkeit. Ein Sicherheitsnetz, eng verwoben mit unserer Bindungsfähigkeit und dem Selbstwert. Essenziell für ein friedvolles und selbstbestimmtes Leben.
Die Frage ist jedoch: Wie sieht es in diesem Zuhause aus? Welche Gesetze gelten dort? Wem folge ich eventuell unbewusst? Welche Aufträge lebe ich stellvertretend? Worüber bin ich mir bewusst?
Im Laufe des Beitrages werde ich dir einige Fallbeispiele geben.
Beispiel: Stell dir die Familie Schneider vor. Vor Generationen musste die Urgroßmutter Anna alleine fünf Kinder großziehen, nachdem ihr Mann früh verstarb. In ihrer Not entwickelte sie das Prinzip „Die Familie kommt zuerst, immer und überall“, um das Überleben ihrer Kinder zu sichern. Dieses Prinzip setzte sich über die Generationen hinweg durch und wurde zu einem unbewussten Gesetz. Nun, viele Jahre später, hält Annas Enkelin Clara zwar bewusst nicht viel von dieser Regel, fühlt sich aber dennoch verpflichtet, jedes Familienfest zu organisieren und Zeit und Energie für die Familie zu opfern – auch wenn sie lieber eigene Pläne verfolgen würde. Sie spürt oft, dass ihre eigenen Bedürfnisse als „selbstsüchtig“ betrachtet werden könnten und sich ein Schuldgefühl einstellt, wenn sie sich zu stark abgrenzt.
Das unbewusste Familiengesetz zwingt Clara, die Tradition der totalen Loyalität aufrechtzuerhalten, obwohl das ursprüngliche Bedürfnis (das Überleben in Krisenzeiten) längst nicht mehr besteht. Indem Clara dieses Muster erkennt und reflektiert, könnte sie die Entscheidung treffen, neue Grenzen zu setzen und das alte Gesetz an ihre aktuelle Lebensrealität anzupassen.
"Ich bin in einer Welt, die in mir ist" - Paul Valery.
Überschrift #2: Bewusste und unbewusste Aufträge
Ein bewusst erteilter Auftrag innerhalb der Familie ist oft eine explizite, klare Anweisung, die den Weg eines Familienmitglieds in eine bestimmte Richtung lenken soll. Ein Beispiel wäre ein Vater, der seinem Sohn nahelegt, das Familienunternehmen zu übernehmen. Dabei könnte er sagen: „Ich möchte, dass du das Unternehmen in Zukunft weiterführst und entwickelst.“ Hier äußert er klar seine Erwartungen und gibt seinem Sohn bewusst die Verantwortung und das Ziel mit auf den Weg, die Familientradition zu bewahren und weiterzuführen.
Solche Aufträge beinhalten in der Regel familiäre Werte oder Ziele, sind aber anders als unbewusste Aufträge offen kommuniziert und erlauben zumindest theoretisch eine aktive Entscheidung des Kindes oder Jugendlichen.
Unbewusste Aufträge sind oft durch familiäre Traditionen und Erwartungen geprägt, und werden häufig an Mitglieder weitergegeben, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Diese unbewussten Aufträge können dazu führen, dass Familienmitglieder Verhaltensmuster übernehmen, die nicht ihrer eigenen Persönlichkeit entsprechen, sondern die Wünsche oder Ängste anderer Familienmitglieder reflektieren. Das Erkennen und Bewusstmachen dieser Aufträge ist entscheidend, um die persönliche Entfaltung zu ermöglichen und familiäre Dynamiken zu verändern.
„Wenn wir nicht wissen, welchen Hafen wir ansteuern, ist kein Wind günstig.“ – Seneca
Beispiel: Ein Beispiel für einen unbewussten Auftrag wäre, wenn eine Mutter nach einem Verlust durch Flucht oder Migration unbewusst eine starke Angst vor Veränderungen entwickelt und ihre Kinder unbewusst dazu erzieht, sich immer für Stabilität und Sicherheit zu entscheiden. Sie spricht nie direkt darüber, sondern zeigt diese Angst, indem sie jede risikoreiche Entscheidung vermeidet und oft vor potenziellen Gefahren warnt. Ohne es zu merken, wächst die Tochter in dem unbewussten Auftrag auf, ebenfalls risikoscheu zu leben und Veränderungen als gefährlich zu empfinden, obwohl keine klare Anweisung dazu existiert.
Überschrift #3: Transgenerationale Loyalitäten und Pflichten
Loyalitäten innerhalb der Familien als tief verwurzelte Bindungen, die oft unbewusst sind. Diese Loyalitäten können dazu führen, dass Familienmitglieder bestimmte Rollen übernehmen oder Verhaltensweisen an den Tag legen, um den Erwartungen und Traditionen der Familie gerecht zu werden. Oft stehen diese Loyalitäten im Konflikt mit den eigenen Bedürfnissen und Wünschen. Das Bewusstsein über diese Loyalitäten ist wichtig, um individuelle Entfaltung zu ermöglichen und gesunde Grenzen zu setzen.
Beispiel: Anna, die älteste Tochter, hat sich schon früh dazu verpflichtet, ihrer alleinerziehenden Mutter, die unter Depressionen leidet, beizustehen. Diese Loyalität hat sie zu einer Art „Ersatzelternteil“ gemacht. Als sie einen Freundeskreis aufbauen möchte, spürt sie eine tiefe Schuld, wenn sie Zeit für sich selbst in Anspruch nimmt. Ihr Freund, Felix, versucht, sie zu unterstützen, aber Anna kämpft ständig mit dem Gefühl, ihre Mutter im Stich zu lassen, was ihre Beziehung zu Felix belastet und sie emotional isoliert.
Überschrift #4: Uralte Lasten
Uralten Lasten innerhalb von Familien gelten als emotionale und psychologische Erbschaften, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Diese Lasten können unverarbeitete Trauer, Konflikte oder traumatische Erfahrungen umfassen, die die Dynamik und das Verhalten der Familienmitglieder beeinflussen. Um einen individuellen und freien Lebensweg zu gehen, ist es essenziell diese Lasten zu erkennen und zu bearbeiten.
Beispiel: Max, der jüngste Sohn, wächst in einer mittelständischen Familie auf, in dem Geld ein Thema ist, über welches nicht gesprochen wird. Seine Eltern verdienten jedoch gut und legten jeden Cent zur Seite. Seine Großeltern lebten in Armut und sind früh verstorben. Über die Großeltern wurde nicht gesprochen und Max hat sie nie kennengelernt. Als Max eine eigene Familie gründete, war das Geld ständig knapp. Obwohl er genügend Einnahmen durch seine Anstellung generierte, fand Max sich immer wieder in finanziellen Engpässen und Schulden vor. Max lebte das unverarbeitete und unausgesprochene Trauma seiner Großeltern weiter, die von Hunger und Armut geplagt wurden, indem er ihnen unbewusst folgte.
In der Familientherapie, insbesondere in der systemischen Therapie, werden verschiedene Rollen innerhalb von Familien dynamisch betrachtet. Diese Rollen können oft zu Mustern und Konflikten führen. Hier sind einige typische systemische Rollen:
Der Retter (auch "Helfer" genannt): Diese Person versucht, andere Familienmitglieder zu unterstützen und zu beschützen. Sie opfert oft eigene Bedürfnisse, um anderen zu helfen.
Das schwarze Schaf: Diese Rolle bezieht sich auf das Familienmitglied, das häufig für Probleme verantwortlich gemacht wird. Es wird oft als rebellisch oder problematisch wahrgenommen und kann eine Art „Sündenbock“ für die Familie sein.
Der Platzhalter (oder "Stille Wasser"): Diese Person zieht sich emotional zurück und vermeidet Konflikte. Sie kann das Gefühl haben, dass ihre Meinung oder ihr Bedürfnis nicht wichtig ist.
Der Friedensstifter: Diese Rolle versucht, Harmonie in der Familie herzustellen, oft indem Konflikte vermieden oder unter den Teppich gekehrt werden. Diese Person kann Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Gefühle auszudrücken.
Der Machtspieler: Diese Person versucht, Kontrolle über die Familie auszuüben, oft durch Manipulation oder Dominanz. Sie kann Konflikte anheizen oder aufrechterhalten, um ihre Position zu stärken.
Der Außenseiter: Dieses Familienmitglied fühlt sich oft von der Familie entfremdet oder ausgeschlossen. Sie haben Schwierigkeiten, sich zu integrieren oder akzeptiert zu werden.
Der Verantwortliche: Diese Person fühlt sich oft für das Wohlbefinden der gesamten Familie verantwortlich und übernimmt viele Aufgaben. Sie kann sich überfordert fühlen.
Der Rebell: Dieses Familienmitglied stellt die Regeln in Frage und tritt gegen Autorität auf. Es kann als Ausdruck von Unabhängigkeit oder als Reaktion auf familiäre Dynamiken gesehen werden.
Überschrift #5: Ein Genogramm als Werkzeug
Ein Genogramm ist ein kraftvolles Werkzeug, um komplexe familiäre Beziehungen zu visualisieren und zu verstehen. Es kann dir helfen, sowohl deine eigene Familiengeschichte als auch die von anderen besser zu erkennen.
Schritt 1: Bestimme den Zweck deines Genogramms
Überlege dir, warum du ein Genogramm erstellen möchtest. Möchtest du familiäre Beziehungen analysieren, emotionale Muster erkennen oder bestimmte Probleme in der Familie darstellen? Der Zweck wird dir helfen, die notwendigen Informationen zu sammeln.
Schritt 2: Sammle Informationen
Sprich mit Familienmitgliedern und recherchiere, um folgende Informationen zu sammeln:
Namen und Geburtsdaten aller Familienmitglieder
Ehe- und Scheidungsdaten
Todesdaten und bedeutende Lebensereignisse
Berufe, Ausbildung und Gesundheitsprobleme
Beziehungen und emotionale Bindungen, z. B. enge Verbindungen, Konflikte oder Missverständnisse
Schritt 3: Zeichne die Grundstruktur
Beginne mit einem großen Blatt Papier oder einem digitalen Tool:
Symbole: Verwende Kästchen für Männer und Kreise für Frauen.
Generationslinien: Beginne mit dir selbst oder deinen Eltern und arbeite nach oben (zu den Großeltern) und seitwärts (zu Geschwistern und anderen Verwandten).
Schritt 4: Beziehungen darstellen
Verwende Linien, um die Beziehungen darzustellen:
Eine horizontale Linie für eine Ehe
Eine vertikale Linie für Kinder
Eine gestrichelte Linie für getrennte oder geschiedene Paare
Schritt 5: Füge wichtige Informationen hinzu
Ergänze dein Genogramm mit weiteren Details:
Verwende Notizen oder Farben, um emotionale Bindungen oder Konflikte zu kennzeichnen.
Du kannst auch zusätzliche Symbole verwenden, um wichtige Informationen zu markieren, z. B. für Krankheiten oder besondere Ereignisse.
Schritt 6: Legende erstellen
Füge eine Legende hinzu, die die verwendeten Symbole und Linien erklärt. Dies hilft anderen, dein Genogramm leicht zu verstehen.
Schritt 7: Analyse und Reflexion
Nutze dein Genogramm, um Muster, Konflikte und familiäre Dynamiken zu erkennen. Überlege, wie die Beziehungen und Ereignisse in deiner Familie miteinander verbunden sind und welche Auswirkungen sie auf die gegenwärtigen Familienmitglieder haben.
Überschrift #6: Fazit
Unbewusste Aufträge innerhalb der Familie können sowohl eine Quelle von Unterstützung als auch eine Last sein. Diese Aufträge beeinflussen unser Verhalten und unsere Entscheidungen oft tiefgreifend, ohne dass wir es merken. Um ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu führen, ist es entscheidend, sich der eigenen familiären Prägungen bewusst zu werden, unbewusste Muster zu erkennen und aktiv daran zu arbeiten, sich von diesen Lasten zu befreien.
Der Weg zur Selbstbestimmung beginnt mit der Reflexion über die eigene Familiengeschichte. Große Bedeutung tragen die Emotionen in diesem Prozess. Manchmal reicht die Bewusstwerdung nicht aus, weil die Emotionen uns noch biochemisch an die Vergangenheit binden. Somit sollte die Bewusstwerdung und das Verarbeiten der Gefühle, Hand in Hand gehen. Hierfür lohnt es sich, professionelle Unterstützung hinzuziehen.
In meiner täglichen Arbeit mit Klienten und familiären Verstrickungen stelle ich immer wieder fest: Oft leben wir unbewusst einem Familienmitglied/Ahnen nach, verachten, sabotieren, vergöttlichen/idealisieren oder solidarisieren uns mit ihnen. Das wird dann besonders schwierig und spannend, wenn schwierige Traumata unverarbeitet blieben. Gucken wir zurück in unsere Geschichte, finden wir genügend emotionalen Brennstoff. Jeder von uns ist auf irgendeine Art und Weise vom zweiten Weltkrieg betroffen.
Mir beschafft es bis heute ehrfürchtige Gänsehaut, wenn ich mit einem Klienten an einer aktuellen und akuten Herausforderung arbeite und die Auslöser in einer anderen Generation finde. Wenn ich früher über Epigenetik und systemische Ansätze gelesen habe (ohne die jeweiligen Erfahrungen die ich bis heute machen durfte), erschien es mir immer als "logisch". Nur einen Menschen wirklich hadern und kämpfen zu sehen, aufgrund eines Erlebnisses, welches diese Person selbst nicht erlebt hat, ist nochmal etwas ganz anderes.
Wer ein selbstbestimmtes Leben erfahren möchte, nabelt sich emotional von den eigenen Eltern ab und deckt unbewusste Dynamiken im Familiensystem auf. Das ist nicht immer einfach und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dieser Weg anstrengend sein kann. Aber es lohnt sich.
„Zu wissen, dass Veränderung möglich ist und der Wunsch Veränderungen vorzunehmen, dies sind zwei große erste Schritte.“ – Virginia Satir
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